Schelte aus dem Spiegel – Teil drei

[Fortsetzung von »Schelte aus dem Spiegel – Teil zwei«]

Gestern veröffentlicht der Tagesspiegel unter der Titelzeile »Warum Covid-19 die Ärmsten besonders hart trifft« einen Artikel, in dem uns Binsenweisheiten und unfassbarer Zynismus begegnen, aber in dem uns auch in dieser Hinsicht »das Virus« den Spiegel vorhält und uns die bösartige Fratze des Kapitalismus zeigt.

»Die Corona-Ausbrüche der vergangenen Wochen in Schlachthöfen und in Mietshäusern in Neukölln und in Göttingen haben den Blick auf einen bisher unterbelichteten Aspekt der Pandemie gelenkt: den Zusammenhang zwischen sozialem Status und Corona.«

Ein bisher unterbelichteter Zusammenhang?

Wie viele Bücher müssen noch geschrieben werden?

Wie viel Leid muss noch geschehen, bis vor allem auch »Journalisten« zur Kenntnis nehmen, dass wir in einem verbrecherischen Ausbeutungssystem leben und dass die gefeierte »Marktwirtschaft« asozial ist?

Andererseits: Wie viel Leid muss noch geschehen, bis der fettgefressene Wohlstandsbürger des angeblich so hochentwickelten Europa merkt, was los ist – und auf die Barrikaden geht?!

Achja: Urlaubsreisen sind ja das Wichtigste…

»Der Armutsforscher Christoph Butterwegge sagt: „Nur auf den ersten Blick sind vor dem Virus alle gleich. Mittlerweile zeigt sich viel deutlicher als zu Beginn der Pandemie: Menschen sind je nach ihrer sozioökonomischen Stellung unterschiedlich stark betroffen.“«

Mal ehrlich, Herr Butterwegge: Sie sind doch angeblich Armutsforscher – da sollte gerade Ihnen dieser Zusammenhang doch grundsätzlich sonnenklar sein. Angesichts Ihrer Profession zu sagen: »Mittlerweile zeigt sich viel deutlicher als zu Beginn der Pandemie…« halte ich für mehr als schwach, das ist unterirdisch.

Sie als »Armutsforscher« hätten zu Beginn aufstehen und auf den Zusammenhang von Krankheitsrisiko und Armut vorausschauend hinweisen und tatsächlich wirksame Maßnahmen fordern müssen, die armen Menschen auch wirklich helfen.

Also ich jedenfalls habe nichts dergleichen von Ihnen wahrgenommen.
Von Ihnen kommen immer nur wohlfeile Sprechblasen, wenn sie ein Mikrofon (und möglichst auch eine Kamera) im Gesicht haben.

»Auch ein Papier des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) zeigte, wie die Corona-Maßnahmen die Arbeitssituation der Erwerbstätigen in Deutschland verändert haben. Rund 35 Prozent der Erwerbstätigen hätten in der Krise im Homeoffice gearbeitet – darunter aber vor allem Besserverdienende.
„Das bedeutet aber auch, dass diejenigen Beschäftigten, die geringere Einkommen haben und weniger gebildet sind, geringere Möglichkeiten haben, das Ansteckungsrisiko bei der Arbeit zu verringern“, heißt es beim DIW Berlin.«

Auch hier frage ich mich, wie die Herrschaften denn nur so rasant auf diese bahnbrechende Erkenntnis kommen konnten, wo doch die Pandemie noch so neu und die Überraschung ja scheinbar groß ist ob der Zusammenhänge zwischen Krankheitsrisiko und Armut.

Aber haben solche Erkenntnisse – die ja nun alles sein mögen, aber nicht neu – nun auch positive Folgen für die Armen?

Reagiert die Politik etwa angemessen – schließlich leben wir ja in einer angeblich »sozialen Marktwirtschaft«?

»Soziale Marktwirtschaft« ist übrigens ein »Contradictio in adiecto« (ein Widerspruch in sich; von lat. Widerspruch in der Beifügung/Hinzufügung, das heißt ein Widerspruch, der darin besteht, dass der Begriff Merkmale enthält, die ihm selbst widersprechen. Eine contradictio in adiecto liegt zum Beispiel im Begriff rundes Quadrat vor. Die Hinzufügung des Adjektivs rund widerspricht dem Sinn des Wortes Quadrat. → https://de.wikipedia.org/wiki/Contradictio_in_adiecto)

»Marktwirtschaft« ist ein Konstrukt, eine Wortschöpfung, die ein positives Bild von »Kapitalismus« zeigen soll und »sozial« suggeriert, dass »Kapitalismus« sich auch den Schlechtergestellten zuwendet und sie »nicht allein lässt«.
Das jedoch widerspricht den Grundlagen des Kapitalismus, denn oberste Priorität hat das »Kapital«, der Profit, die Gewinnerzielung – um jeden Preis, wie wir seit vielen Jahren und sich in aktueller Zeit sehr verstärkt und beschleunigt auch am Zustand und am Umgang mit unserer planetaren Ökosphäre sehen können.

»Es gab bereits Untersuchungen aus den USA und Großbritannien, die zeigten, dass Menschen mit einem niedrigerem Einkommen und geringerer Bildung ein höheres Risiko haben, an Covid-19 zu sterben. Für Deutschland existierten solche Daten bislang nicht.«

Naja, es mögen keine konkreten, auf die aktuelle Pandemie bezogene Daten vorgelegen haben, aber das Wissen um die Zusammenhänge ist schon lange vorhanden, der Fakt ist bekannt und vielfach nachgewiesen. Da braucht es keine neuen Daten, sondern Gesetze, die die Armen schützen und deren Lebenssituationen verbessern und im besten Fall die Armen aus ihrer Armut befreien.

Wie wäre es denn da zum Beispiel mit einem (bedingunglosen) Grundeinkommen gewesen?

Petitionen liegen zuhauf vor und einige haben sogar das Quorum geschafft. Und – wird’s verhandelt? Ja, irgendwann im November vielleicht… wenn nicht eine böse zweite Welle dazwischengrätscht…

Die Politik folgt der Wirtschaft und »die Wirtschaft« kennt kein »sozial«.

Die Krankenschwestern bekommen Applaus und die Lufthansa 9 Milliarden Euro.

»Für die Arbeitslosengeld-I-Empfänger sei das Risiko um 17,5 Prozent erhöht gewesen. Hartz-IV-Empfänger hätten sogar ein um 84 Prozent höheres Risiko gehabt. Das heißt, dass Arbeitslose mit höherer Wahrscheinlichkeit einen schweren Verlauf von Covid-19 erleben.«

Dem ist nichts hinzuzufügen. Wer angesichts solcher Verhältnisse noch behaupten kann, wir lebten in einer »sozialen« Marktwirtschaft, hat da gewaltig was nicht verstanden oder steht auf Seiten der Ausbeuter.

»Armutsforscher Christoph Butterwegge hat unter dem Titel „Die zerrissene Republik“ ein Buch über Ungleichheit in Deutschland geschrieben. Er sagt: „Wir wissen seit dem frühen Industriezeitalter: Wer arm ist, muss früher sterben. Für Corona lässt sich das abwandeln: Wer arm ist, muss eher sterben.“ Bei Armen ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass eine Covid-19-Erkrankung tödlich verlaufe.«

Ach was? Doch kein »bisher unterbelichteter Zusammenhang«?!

»Ein wichtiger Faktor für die schwereren Corona-Verläufe dürften die Vorerkrankungen sein. „Armut geht einher mit einem höheren Risiko für Krankheiten wie Asthma, Bluthochdruck, Diabetes oder Adipositas“, sagt Butterwegge. Die ökonomische Ungleichheit setze sich also fort bei der Gesundheit. „Die Immunschwächsten sind oft auch die Finanzschwächsten.“
Einige Gründe dafür liegen auf der Hand: So können sich Menschen mit wenig Geld schlechter Lebensmittel wie Obst oder Gemüse leisten, griffen zu preiswerteren aber eben auch ungesünderen Produkten. Dazu kommt, dass das Einkommen auch beeinflusst, welchen Wohnort man sich leisten kann oder welche Sportarten man ausübt.
„Menschen sind zudem sozial vernetzt. Wo ein weniger gesundheitsförderliches Verhalten common sense ist, verstärkt sich das gegenseitig“, sagt Markus Grabka, der am DIW Berlin zu Einkommens- und Vermögensverteilung sowie Gesundheit forscht.
Verstärkt das Virus soziale Ungleichheit?
Armutsforscher Butterwegge befürchtet das. Zumindest zeigt sich, dass Corona zu einer Zunahme von Armut führen könnte. Die Arbeitslosigkeit steigt. Die Tafeln beobachten bereits jetzt einen Anstieg der Hilfsbedürftigkeit in Deutschland.«

Aha… Welch Überraschung.

Das Problem dieser Nebelkerze ist jedoch: Nicht das böse, böse Virus verstärkt die Ungleichheit, sondern das System, in dem wir leben und wirtschaften, zeigt angesichts des Virus’ sein wahres Gesicht. Das Virus hält sozusagen mit einem großen Spot-Scheinwerfer drauf – es hält uns den Spiegel vor.
Denn alle Probleme, die jetzt »aufploppen« und uns so erstaunen, sind schon lange chronisch, haben sich über lange Zeiträume verstärkt, sind wohlbekannt und schon von Vielen beschrieben worden.
Vor allem sind ja scheinbar die »Journalisten« ach so überrascht, was es jetzt so alles an Problemen zu besprechen gibt… Aber sie müssen ja »neutral berichten«. Ich habe dazu bereits im Artikel »Die Schreiberlinge stehen auf der falschen Seite« etwas geschrieben – irgendwann muss ich das nochmal sortieren und dazu einen eigenen neuen Artikel schreiben.

»In der Politik ist die Frage, wie sich Corona-Risiko und sozialer Status bedingen, nun jedenfalls angekommen.«

Also, ich weiß ja nicht, wie es dir geht, liebe/r Leser/in – bei mir ist offenbar die Wahrnehmung gestört – ich kann nicht erkennen, was »die Politik« gerade jetzt entscheidet, um Ungleichheit zu verringern oder auch nur, Armen die Situation zu erleichtern und deren Krankheits- und Sterberisiko zu senken.

Aber wirklich in Wut versetzt mich der letzte Satz des Artikels:

»So räumte etwa der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach ein, dass Armut ein Risikofaktor sei und mehr in diese Richtung getan werden müsse. Er schlug unter anderem die kostenfreie Versorgung mit hochwertigen Masken vor.«

Das ist an Zynismus nicht zu überbieten.

Masken könnt ihr haben, aber eure Situation verbessern wir nicht.

Kein Wille, grundsätzliche Ursachen zu beseitigen – es wird wieder einmal nur an Symptomen herumgebastelt – aber ansonsten soll alles so bleiben, wie es ist.
Das ist menschenverachtend und zerstört aktiv den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auch (indirekt) die gesamten Ökosphäre unseres (einzigen!) Planeten.

Bitte schreib mir deine Meinung unten in die Kommentare – herzlichen Dank.

Viele Grüße
Detlef Jahn

[Fortsetzung: »Schelte aus dem Spiegel – Teil vier«]

5 Gedanken zu „Schelte aus dem Spiegel – Teil drei“

  1. Was man fürs Geld noch kaufen kann (SZ vom 14.10.2021)
    Meine Antwort darauf:
    Teuerung überall – aber warum?
    Ist die Qualität des Gases besser geworden? Nein
    Haben wir beim Strom einen besseren Wirkungsgrad? Nein
    Ist das Fichten- und Kiefernholz härter geworden? Nein
    Kann man jetzt mit einem Liter Benzin weiter fahren? Nein
    Sind Lebensmittel plötzlich energiereicher oder bekömmllcher? Nein
    Die Teuerungsursachen sind nicht die erhöhten Nachfragen,
    sondern die Gier der Vermieter, der Produzenten und Lieferanten ganz allein.
    Und der Staat soll mit Steuergeldern diese Gier unterstützen.
    Regierungsmitglieder und Abgeordnete:
    Denkt an Eure Eidesformel!
    Wie lautete doch der Ausspruch von Ludwig Erhard?
    Sozial kann man eine Wirtschaft nur nennen, wenn deren Ertrag allen Menschen zugute kommt.
    Aber davon haben wir uns meilenweit entfernt.

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