Ernstfall Ost? Nein, Ernstfall Politik!

Unter dem schmissigen Titel »Ernstfall Ost« schreibt Christian Bangel am 27. Mai 2019 einen Kommentar, den ich unbedingt kommentieren muss, weil mir einfach mal wieder die sprichwörtliche Galle hochgeht. Ich bitte also Emotionalitäten zu entschuldigen – in der Sache bin ich jedoch unversöhnlich. Ich halte es für zwingend notwendig, den Ton etwas rauher werden zu lassen.

»Es muss jetzt endlich etwas Effektives passieren im Osten. Es geht dabei nicht nur um die Landtagswahlen, sondern darum, die Orbánisierung von Teilen der Mitte aufzuhalten. Es gibt progressive Menschen im Osten, an manchen Orten sind sie auch tonangebend, doch überall ist auch das, was der Rechtsextremismus-Experte David Begrich eine „regressiv-autoritäre gesellschaftliche Unterströmung“ nennt, die in allen Milieus anzutreffen sei. Zugleich sähen sich viele „einer Art kulturellen Fremdherrschaft unterworfen, in der sie mit ihren Erfahrungen nicht vorkommen“. Das Ergebnis ist bei vielen die Ablehnung dessen, was sie als westdeutschen Mainstream erleben: Pluralismus, Minderheitenschutz, eine kompromissorientierte politische Praxis.«

Da muss ich einen Satz herausgreifen, der wichtig ist und wohl von den meisten Lesern übersehen wird, weil im weiteren Text versucht wird, zu relativieren, was scheitern muss.

»Zugleich sähen sich viele „einer Art kulturellen Fremdherrschaft unterworfen, in der sie mit ihren Erfahrungen nicht vorkommen“.«

1990 fand keine Vereinigung statt, schon gar nicht »wieder«, sondern wir erlebten eine feindliche Übernahme. Der Osten wurde in die damalige BRD »eingegliedert«. Und wenn ich Eins in ein Anderes eingliedere, dann stehen diese Beiden nicht »auf Augenhöhe« nebeneinander, sondern der Eingegliederte muss sich danach richten, was der Eingliedernde vorgibt.

Eine Vereinigung wäre dann eher mit dem so modernen Begriff der ›Inklusion‹ vergleichbar, bei der mehrere Teile sich zu etwas Ganzem vermischen (im Idealfall zu etwas Neuem) und nicht das Eine in dem Anderen untergeht und von ihm überzogen wird, bis es unkenntlich verformt oder ganz assimiliert ist.
Aber genau das ist passiert.

Die damaligen kritischen Stimmen sind nicht beachtet oder sind überschrien worden und heute zeigt sich, dass sie recht hatten. Genau so, wie Lafontaine schlechtgemacht und weggejagt wurde, als er vorhersagte, dass die ganze Sache deutlich teurer wird, als behauptet und dass es länger dauern und mehr Schwierigkeiten verursachen würde, als versprochen.

Und da ist sie schon wieder, die Gelegenheit, meinen Lieblings-Tucholsky rauszuholen:

»Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht…«

»Der Westen« (genauer: dessen »Entscheidungsträger«) hat geglaubt, den Osten kaufen zu können, indem er die Häuser repariert und ein paar Straßen baut (ich fange hier keine Aufzählung an, was uns im Gegenzug alles weggenommen wurde…!) – er hat geglaubt, dass wir uns mit Bananen, Milka, Coca-Cola und billigen Pauschalreisen betäuben lassen und erlebt nun, dass das ein sehr kurzfristiges Denken war – jetzt wird geerntet, was damals gesät wurde – und viele haben es vorausgesagt, aber niemand wollte es hören.

»Dem Osten« jetzt also zu vermuten (um nicht zu sagen: »anzudichten«) er habe »ein Gefühl«, ist leicht dahingeschrieben, zeugt jedoch von arger Fehlsichtigkeit – sei es aus Arglist oder aus Arglosigkeit und Unkenntnis der realen Ereignisse. Hier sollten vor allem die Schreiberlinge sich beim Quellenstudium mehr Mühe geben und vor allem mal alte Aufzeichnungen von Interviews mit »kleinen Leuten« durchsehen oder auch gerne heute wieder einmal mit »Überlebenden« neue Interviews führen. Noch gibt es genügend Zeitzeugen.

Die Geschichte und ihre Schreibung ist (bisher) noch immer die Geschichte der Sieger gewesen und die Verlierer galten schon immer als unwert.

Und wer jetzt schon wieder seinen Nazi-Beißreflex pflegen will, weil ich das Wort »unwert« verwende, ist auf meine Provokation hereingefallen.
Ich bin frei von zugewiesenen Himmelsrichtungen – ich benutze nur gern den Kern treffende Worte. Ich denke in freien Kategorien und ich bin gegen jede Art Demagogie, egal, aus welcher Denkrichtung sie kommt und welche Zuschreibung sie sich selbst gibt oder andere ihr aufdrücken wollen.

Wer angesichts unserer heutigen grundsätzlichen und vor allem globalen Probleme noch in Rechts-Links-Denkschachteln sortiert, hat gar nicht verstanden, dass es schon drei Minuten nach Zwölf ist!

Fanatismus und Extremismus haben uns dorthin geführt, wo wir jetzt stehen. Wer diesen Weg weitergehen will, ist auf dem falschen Weg unterwegs und befindet sich in einer Sackgasse – egal, ob er Islam-Fundamentalist oder Freier-Markt-Fanatiker ist oder irgend einem anderen Extremismus folgt.

»Der Osten war dem Westen nie ein großes Anliegen

Es führt noch immer kein Weg daran vorbei, ernsthaft und tiefgründig aufzuarbeiten, was in den vergangenen 30 Jahren im Osten geschehen ist. Mag sein, dass die Treuhand, dass die Alimentierung des Ostens gut und patriotisch gemeint waren. Doch es wird Zeit, auf das nüchterne Ergebnis zu schauen: Der Osten ist, abgesehen von einigen Aufschwungregionen im Süden, weitgehend deindustrialisiert, er hat infolgedessen eine Massenabwanderung und Überalterung erlebt, die vielen Regionen dort heute jede Perspektive rauben. Die Löhne sind unterirdisch, die wenigsten werden ihren Kindern etwas hinterlassen. Selbst nach dem historischen gesamtdeutschen Aufschwung des vergangenen Jahrzehnts empfehlen Experten, manche Gebiete besser der Natur zu überlassen.
Vielleicht gibt es auf all das keine schnelle ökonomische und politische Antwort, doch soll das verstärkte Ansiedeln von Behörden im Osten tatsächlich die letzte Idee sein, die einer der bedeutendsten Industriestaaten der Welt dazu hat?
Es ist diese Wurstigkeit, mit der in der Politik jede neue Hiobsbotschaft aus dem Osten behandelt wird. Es gab in den 30 Jahren seit der friedlichen Revolution nicht einen einzigen bedeutenden westdeutschen Politiker, der den Osten zu seinem großen Anliegen gemacht hätte – außer einigen Senioren, die dort ihre zweite Karriere machten. In der gesamtdeutschen politischen Öffentlichkeit gibt es nur wenige, die mit Ostthemen wirklich durchdringen. Die hin und wieder mal warnen, welche Abgründe sich in einer Region auftun können, in der nicht so wenige Bewohner zu der Überzeugung gelangt sind, sie seien feindlich besetzt worden.«

Diesem Textabschnitt kann ich halbwegs zustimmen.

»Einfach mal schreiben, dass der ganze Osten naziverseucht ist

Deswegen ist es leider nichts Neues, was man seit der Europawahl wieder auf Twitter lesen kann. „Baut die Mauer wieder auf“, „Leipzig abspalten“ und Ähnliches schreiben Leute. Sie wollen nichts mehr hören davon, dass es auch einen anderen Osten gibt, dass einfache bis überwältigende Mehrheiten auch im Osten die AfD ablehnen. Sie sehen es nicht ein, darüber nachzudenken, ob irgendetwas an der ostdeutschen Wut auch gerechtfertigt sein könnte. Sie wollen jetzt einfach mal schreiben, dass der ganze Osten naziverseucht ist. Aber wie viele von denen, die jetzt schreiben, sie wollten das Gelaber von den demokratischen 75 Prozent nicht mehr hören, haben das Gelaber von den demokratischen 87 Prozent nach der Bundestagswahl mitgemacht?
Dabei bräuchte es nur ein wenig mehr Differenzierung, um nicht alle Ossis zu Mitläufern einer rechten Revolution zu machen.«

Wie wäre es denn, wenn sich die Damen und Herren Journalisten mit den Inhalten der ostdeutschen Kritik befassen würden und nicht immer wieder jeder dahergelaufene Schreiberling immer und immer wieder »die rechte Revolution« herbeischreibt?!

Vielleicht würde dabei herauskommen, dass (in der Mehrheit der Bevölkerung) gar kein Interesse an einer »rechten Revolution« besteht, sondern, dass hier einfach Protest geübt wird?!

Wenn ihr (Journalisten) eurem Berufsethos mal wirklich folgen würdet, käme womöglich heraus, dass die Politik sehr viel mehr Dresche verdient hat, als der zukunfts-verängstigte und wütende Demonstrant bei PEgIdA?!
Und vielleicht würde zum Vorschein kommen, dass die weit überwiegende Mehrheit der Demonstranten in Dresden gar kein Problem mit fremden Menschen hat (solange die wenigstens Willen zeigen, sich an einheimische Gepflogenheiten zu halten…), sondern, dass diese Demonstrationen Ausdruck der Unzufriedenheit mit der eigenen Situation und der nicht vorhandenen positiven Perspektive sind und dass außer inhaltsleerem Politiker-Gelaber nichts (Positives) passiert?!

»Zeit für mehr Streit, nicht weniger

Es ist so viel schiefgelaufen im Nachwendeosten, es gab so viele Ungerechtigkeiten. Aber das ist kein Grund, das war es nie, Rechtsextreme zu wählen und damit das Land von der Außenwelt abzuschotten. Niemand wird von der Geschichte gezwungen, ein Rassist zu sein. Niemand hat das Recht, andere zu misshandeln, weil ihm selbst übel mitgespielt wurde. Und auch sonst nicht.
Wo immer im Osten das nicht klar ist, wird es Zeit für mehr, nicht weniger Streit. Denn so sind nicht alle, bei Weitem nicht. Es gibt so viele, die das Grundgesetz jeden Tag in ihrem Tun und Reden respektieren. Sie sind an den meisten Orten in der Mehrheit, und es wird Zeit, dass sie sich durchsetzen.
Diese Menschen brauchen Unterstützung, manche brauchen konkret Geld. Was sie jedenfalls nicht brauchen, sind wohlfeile Kommentare aus Hannover-Linden. Die Lage im Osten ist zu ernst, um nicht zu differenzieren.

Da ist ein Satz wichtig:

Es ist so viel schiefgelaufen im Nachwendeosten, es gab so viele Ungerechtigkeiten. Aber das ist kein Grund, das war es nie, Rechtsextreme zu wählen und damit das Land von der Außenwelt abzuschotten.«

Doch – genau das scheint es zu sein.
Scheinbar gibt es kein anderes Mittel, euch zu zeigen, was wir von euch halten, denn »lasst-uns-zuhören-und-darüber-reden« hat ja bisher nie etwas bewirkt.

Auf Argumente und Mahnungen wollt ihr (die Politiker) nicht hören, also gibt es jetzt die wohlverdiente Klatsche!

Was euch jetzt um die Ohren fliegt, ist die Scheiße, die ihr und eure ach so großartigen Vorgänger in den Mixer der Geschichte geworfen haben. Aber das ist ja eine Wahrheit, die ihr nicht hören wollt, weil ja nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf.

Es ist ganz genau dasselbe, wie jetzt mit den jungen Leuten, die erkannt haben (wahrscheinlich leider zu spät), dass Ihr (Politiker) und eure Vorgänger durch eure Ignoranz gegenüber dem schon seit Jahrzehnten (das kann man nicht oft genug wiederholen!) vorhandenen Wissen dafür verantwortlich seid, dass wir (als Menschheit) auf wirklich schlimme Zeiten zugehen.

Und die Ausrede »Wir waren ja damals noch gar nicht im Amt, deshalb sind wir nicht verantwortlich.« zieht nicht, denn ihr habt die Rechtsnachfolge angetreten und haftet damit für alle Schäden eurer Vorgänger, als hättet ihr selbst die Entscheidungen getroffen.
Weshalb sollte in der Politik nicht gelten, was in allen anderen Lebensbereichen gilt – vor allem in der Wirtschaft?!

Bisher hat leider nur noch keiner das Geld in die Hand genommen und mal einen passenden Gerichtshof eingerichtet und angerufen…
Damals in Nürnberg und heute in Den Haag mussten und müssen sich Menschen verantworten, die falsche Entscheidungen getroffen haben und weil durch diese falschen Entscheidungen viele Menschen ihr Leben verloren haben.
Wie wäre es, wenn wir heute den selben Maßstab an euch und eure Vorgänger anlegten?
Wenn das Kriterium für solch einen Gerichtshof Menschenverachtung und Massenvernichtung ist, dann sollten wir vielleicht mal etwas genauer hinterfragen, was eure Entscheidungen so alles für Folgen haben… Dass die Folgen nicht regional begrenzt und zeitlich eng beieinander auftreten und deshalb deutlich sichtbar sind, heißt ja nicht, dass sie nicht da wären.

Nachdem ihr die Zukunft der Menschen im Osten zerstört habt – wider besseres Wissen – habt ihr nun auch noch die Zukunft eurer eigenen und unser aller Kinder und Enkel zerstört.

Und da wundert ihr euch ernsthaft, dass eine Wahl dann solche Ergebnisse bringt?

Wenn es nicht so furchtbar wäre, müsste man euch auslachen – ihr seid so dumm, ihr schwimmt sogar in Milch! (um einen alten Werbespot zu benutzen).

Oder ihr seid so ignorant – dann wäre es ganz und gar nicht zum Lachen, sondern dann wäret ihr diejenigen, um die eine Mauer errichtet werden müsste.

Denn ihr (Politiker) seid diejenigen, die einen Amtseid abgelegt habt und die jeden Tag aufs Neue gegen Ethik und Moral und so ganz nebenbei hier und da bei sich bietenden Gelegenheiten das Grundgesetz verbiegt oder es auch mal ganz brecht, wenn es opportun erscheint.

Aber was gilt schon der Wille des Souveräns – die geben ja ihre Stimme bei der Wahl ab und haben dann keine mehr, nicht wahr?!

Die jungen Leute bei »Fridays for Future« und auf youtube zeigen euch gerade, wie laut sie sein können und ich hoffe sehr, die Lautstärke wird sich zum Orkan erheben, der euch hinwegfegt!

Erboste Grüße
Detlef Jahn

PS:
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich habe keine der angeblichen »großen Volksparteien« gewählt und auch nicht irgendwo »rechts«, sondern ich wähle diejenigen, die sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen oder die ich als »geringstes Übel« empfinde und die einigermaßen glaubhaft versprechen, sich um die Sache mit dem Klima zu kümmern.

Also, meine Damen und Herren Politiker,
überlegt euch, was ihr wollt…!

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