(Dumm, Faul und Gefräßig – Teil 1)
So… Jetzt steht da diese Überschrift, weil ich mir denke, dass eine Überschrift erst einmal wecken muss – ob Widerspruch oder Interesse, ist egal. Hauptsache wach.
Bist Du wach?
Gut. Dann will ich mal sehen, ob ich aus der Überschrift etwas rausholen kann, das nicht völlig unnütz ist.
Ich habe im ZDF eine interessante Reportage gesehen, in der die ›Filterblasen‹ in unseren Köpfen das Thema waren, wie sie entstehen und woran wir sie erkennen können und dass quasi Jeder sich mit mehr oder weniger dichten und mehr oder weniger engen ›Filterblasen‹ umgibt. Ich fand das hochinteressant. Stark vereinfacht ist die ›Filterblase‹ unser thematisch und in der Denkrichtung mehr oder weniger stark eingeengtes Wahrnehmungsfeld.
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Im Netz der Lügen – Falschmeldungen im Internet
Filterblasen und »Fake News«: Wie groß ist die Gefahr durch Nachrichtenmanipulation wirklich? Und warum nehmen viele Menschen krude Verschwörungstheorien ernst?
Der Journalist Mario Sixtus macht sich auf die Suche nach den Gründen für die hitzigen Diskussionen um Lüge und Wahrheit. Was ist dran an der Theorie der Filterblase? Hat sich durch die sozialen Medien wirklich etwas geändert – oder waren wir alle nicht schon immer gefangen in unseren eigenen Ansichtswelten? Dazu dringt Sixtus selbst in ihm fremde Filterblasen ein, auf Expedition in unbekannte Wahrheitsregionen.
Reportage, Beitragslänge: 41 min; Datum: 20.07.2017, ZDF
[25.4.2022: Die Originalquelle ist nicht mehr verfügbar, deshalb habe ich den Link entfernt. Das Video ist aktuell leider auch auf der großen Videoplattform nun nicht mehr abrufbar.]
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Unser Gehirn funktioniert leider nur sehr eingeschränkt ›vernünftig‹ und hockt gewissermaßen noch in der Höhle oder ist vielleicht sogar noch nicht einmal vom Baum geklettert, aber wir trotzen ihm die Fähigkeit ab, Maschinen zu erfinden und muten ihm zu, in immer höherer Geschwindigkeit immer mehr Informationen verarbeiten zu müssen. Was passiert? Das Gehirn schaltet ab und selektiert nach ›wichtig und dringend‹, ›interessant, aber nicht unmittelbar nötig‹ und ›für mich nicht relevant‹.
»Eisenbahnfahren macht irrsinnig, weil der Mensch so hohe Geschwindigkeiten nicht aushalten kann.« Das war wirklich ernsthaft geglaubte Überzeugung, als die erste Eisenbahn öffentlich vorgestellt wurde. 1786 hat Goethe zwei Monate benötigt, um von Karlsbad nach Rom zu reisen. Heute machen wir das in zwei bis drei Stunden. Aber unser Gehirn ist noch das aus der Höhle oder vom Baum.
Sehr schön kann man bei (kleinen) Kindern beobachten, wie unser Gehirn mit Reizüberflutung umgeht: es sperrt sich ein, bzw. die Außenwelt aus. Usere ersten ›Filterblasen‹ bauen wir uns bereits als Klein(st)kinder. Wir kennen auch den Begriff ›selektive Wahrnehmung‹ – meist scherzhaft-provokant benutzt, wenn wir glauben, unser Gegenüber will nicht hören, was wir sagen. Dabei liegen wir instinktiv völlig korrekt mit dem Finger genau auf dem Punkt: unser Gehirn sperrt aus, es filtert, was uns nicht interessiert, was wir als falsch gegenüber unserer Denkrichtung ansehen oder was uns in irgendeiner Form überfordert. Das ist ein Schutzmechanismus, um uns vor Überlastung und Fehlfunktion zu schützen.
»Okay. Gut, soweit. Aber wo willst Du mit mir eigentlich hin?«, wirst Du jetzt fragen.
Naja, ich will zum bedingungslosen Grundeinkommen (BGE).
»Quatsch, was soll denn dieser Klugscheißervortrag hier, von wegen Hirnfunktion und so mit dem BGE zu tun haben?«
Wart’s ab, den Haken in die richtige Richtung schlage ich schon noch. Gut Ding will gut vorbereitet sein.
Also, der ganze Gehirnzirkus soll Dein Nachdenken anregen und Dich auffordern, Deine gewohnten Denkpfade auch mal zu verlassen und Dich gelegentlich selbst zu hinterfragen und gewissermaßen bitte ich Dich, Dich doch mal mit Deinem Spiegelbild zu unterhalten. Zumindest gedanklich, aber durchaus auch mal real – man gewinnt erstaunliche Einblicke in und über sich selbst…).
Vielleicht hast Du ja meine vorigen Artikel zum und über das BGE gelesen und vielleicht bist Du zögerlich, mir zu folgen und meinen Ansichten zuzustimmen. Oder vielleicht bist Du gegenteiliger Ansicht und denkst Dir: »Was für ein Idiot – das ist doch ausgemachter sich-selbst-die-Welt-schön-denk-Unsinn, das mit dem BGE!«
Das ist in Ordnung. Wichtig jedoch ist, dass Du Dich mit mir oder anderen BGE-Befürwortern argumentativ, also ›vernünftig‹ auseinandersetzt und Deine Sichtweise darstellst und mir/uns zeigst, wo wir nach Deiner Meinung einem Irrtum aufsitzen oder vielleicht sogar einen Fehler machen. Dann können wir darüber diskutieren und herausfinden, was tatsächlich vernünftig gedacht ist und wo jemand einer Manipulation unterliegt und einer Ideologie folgt, die unvernünftig oder vielleicht sogar falsch ist.
»Zeige ihnen einen roten Kometenschweif, jage ihnen eine dumpfe Angst ein, und sie werden aus ihren Häusern laufen und sich die Beine brechen. Aber sage ihnen einen vernünftigen Satz und beweise ihn mit sieben Gründen, und sie werden dich einfach auslachen«
(Berthold Brecht)
Der heutige Artikel ist der Start zum Dreiteiler »Dumm, Faul und Gefräßig« – Du kannst Dir vielleicht schon denken, womit sich die anderen beiden Teile befassen und wie sie heißen.
Heute möchte ich darauf hinweisen, dass niemand dumm ist, weil er anderer Meinung ist.
Er/sie
- hat andere Lebenserfahrungen,
- ist in einem anderen Umfeld aufgewachsen,
- hat von seinen Erziehern andere Wahrheiten und Ansichten gelernt und
- ist von anderen Lehrern auf einem anderen Bildungsweg geprägt worden, als Du.
Das sind die Gründe, weshalb er/sie
- anderer Meinung ist,
- an andere Götter glaubt,
- anderes Essen mag,
- anders über Sexualität und Kindererziehung denkt und weshalb er/sie
- einen anderen politischen Standpunkt vertritt.
Deshalb ist er/sie aber noch lange nicht dumm oder deshalb ist es noch lange nicht falsch, was er/sie glaubt oder für richtig hält. Das sind keine Gründe, ihn/sie nicht zu respektieren, so, wie Du selbst auch respektiert werden willst. Denn er/sie hat für seine/ihre Meinung ganz individuell-persönliche Gründe, die durch seine/ihre vorherige Prägung, Bildung, familiären Erfahrungen und beruflichen Erfolge und Misserfolge begründet sind.
In China essen sie Hunde. Und Insekten. Und die finden das dort völlig normal.
Wir lassen für unseren Ökosprit, unser Palmöl und für unsere Veganer die sogenannte ›Dritte Welt‹ abholzen und finden das normal.
Was wir hier so alles als normal empfinden, ist woanders ziemlich unnormal.
Wer will entscheiden, welche Kultur ›die richtige‹ ist und welche ›falsch‹?
Wir müssen uns in unseren Diskussionen mehr bemühen, uns auf die sachlichen Argumente zu konzentrieren und nicht immer uns persönlich angegriffen fühlen. Wir müssen aufhören, immer unserem Gegenüber vorzuhalten, dass falsch sei, was er sagt, sondern müssen ihm positive und sachlich vernünftige Argumente geben, damit er sich öffnen kann, seinen Sandpunkt neu zu überdenken und dann vielleicht seine Denkrichtung zu ändern und sich für neue Wege zu interessieren.
Wenn wir immer wieder sagen: »Nein, Du hast nicht recht!«, zwingt das Steinzeitgehirn unseren Gesprächspartner zur Verteidigung oder sogar zum Gegenangriff und aus der vertanen Chance auf eine lehrreiche Diskussion mit einem sinnvollen Ende entwickelt sich ein nutzloser Streit, der nicht zum Ziel führt und nichts als Zeit und Energie kostet und die Fronten nur verhärtet, statt eine Annäherung zu finden.
Dazu müssen wir uns aber unseres Steinzeitgehirns bewusst werden und es überzeugen, etwas weniger Keule zu schwingen und stattdessen anerkennen, dass wir nicht allein sind und deshalb unsere Sichtweise nicht immer die richtige sein muss.
Seit längerer Zeit befasse ich mich mit den Fragen rund um das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) und seit einigen Jahren bin ich auch Teil der »Initiative Grundeinkommen Leipzig«, mal mehr, mal weniger aktiv, aber immer streitbar teilnehmend mit dortigen Wortmeldungen – nicht schüchtern und meist nicht einfach für die Anderen und selten zu deren Vergnügen. Sehr böse waren sie mit mir, als ich mal sagte: »Ich bin nicht hier, um Freunde zu finden, sondern um die Idee des Grundeinkommens voranzubringen. Und dazu muss ich Euch nicht mögen, sondern ich muss mit Euch sinnvoll zusammenarbeiten.«
Ich will auch hier nicht kuscheln, sondern Erkenntnisgewinn.
In dem kleinen (wahrscheinlich mikroskopisch kleinen) Teil der Grundeinkommensbewegung, den ich wahrnehme, fällt mir immer wieder auf, dass weit über 90 % des gesamten Aufwandes, der da so landauf, landab betrieben wird, nutzlos vertan ist, weil sich immer Alle nur um sich selbst drehen. Wie in anderen Interessensgemeinschaften auch, finden sich Leute zusammen, die sich (meist positiv) für das BGE interessieren und sich austauschen. Was aber leider viel zu wenig stattfindet, ist die aktive Auseinandersetzung mit Skeptikern und Gegnern. Gelegentlich kommt mal über die Mailingliste ein Hinweis auf einen Videobeitrag auf der bekannten Plattform, in dem sich jemand gegen das BGE positioniert, aber eine aktive Befassung mit dessen Argumenten nehme ich nicht wahr. Zu wenig sehe ich Argumente, die sich an den Fragen der Skeptiker ausrichten. Meist finde ich Wortmeldungen, Filme, Artikel, Interviews, die den BGE-Befürwortern bestätigen, dass sie recht haben und die Gegner unrecht, aber die Argumente sind immer die selben und niemand schert sich darum, dass der Wurm dem Fisch schmecken muss und nicht dem Angler. Hier gemeint: die Argumente müssen die Fragen der Zögerer beantworten und die Argumente der Gegner entkräften.
Was erlebe ich jedoch beinahe immer: Entrüstung, dass der Gegner ja alles nur verdrehe und keine Ahnung habe und sowieso gar nicht aufgeschlossen sein will.
Er ist also dumm, der Gegner, weil er Dummes tut.
Dass vielleicht meine Argumente nicht plausibel sein könnten oder missdeutig auslegbar, weil unscharf vorgetragen sind oder jetzt gerade am Kern der gestellten Frage vorbeiflutschen (Thema verfehlt, Sechs, setzen!) – auf die Idee kommen die glühenden Verfechter der Wahrheit, ähm… die BGE-Befürworter gar nicht erst. Wozu auch? Wir wissen ja, dass wir recht haben.
Das gilt übrigens meist für beide Seiten, aber ich will hier das eigene Nest beschmutzen, weil ich will, dass wir besser werden.
Nicht die Gegenseite ist dumm, die nicht auf meine Seite wechselt. Sie hat gute Gründe dafür (aus ihrer Sicht). Ich bin dumm, weil ich meine Diskussion nicht an den Gegenargumenten ausrichte.
Dem Fisch muss der Wurm schmecken, nicht dem Angler.
Ich bin mal auf großes Entsetzen und heftigen Widerstand gestoßen, weil ich gesagt habe: »Wir müssen unsere Informatinsveranstaltungen, Vorträge und Interviews als Verkaufsgespräche anlegen. Wir verkaufen etwas, nämlich unsere Idee vom bedingungslosen Grundeinkommen. Und wenn uns die anderen Leute, die davon noch nichts gehört haben oder jene, die unsicher sind oder gar dagegen, uns unsere Argumente nicht »abkaufen«, werden wir das BGE nie bekommen.
Wir müssen unsere Filterblase verlassen und uns mit der Position der Zweifler und Gegner beschäftigen. Wir müssen herausfinden, weshalb sie zögerlich sind oder gegen ein BGE. Und wenn wir die Gründe kennen, müssen wir Argumente finden, die deren Zweifel ausräumen und wir müssen positive Anreize setzen, die es ihnen ermöglichen, unserer Idee zu folgen.
Sie müssen sicher sein, mehr zu gewinnen, als zu verlieren. Denn sie haben Angst – um ihre Gewohnheiten, um ihre Sicherheiten (auch wenn sie oft nur eingebildet sind), um ihre Hoffnungen (vielleicht doch noch aus eigener Kraft ein größeres Stück vom Kuchen zu erhaschen), um ihre bisherigen Wahrheiten. [Das habe ich im Artikel »Du nimmst mir nichts weg« weitergeführt.]
Wir müssen Hoffnung geben, Sicherheit bieten und zugeben, nicht alles zu wissen.
— Ist nun fortgesetzt mit »Faul« und »und Gefräßig«. —
Bitte diskutiere mit – Vielen Dank. Aber für Huldigungen bin ich auch empfänglich. Jedoch das Wichtigste für mich sind Korrekturempfehlungen – ich kann ja nicht immer alles richtig machen oder wissen.
Viele Grüße
Detlef Jahn
4 Gedanken zu „10: Dumm,“